Montag, 10. März 2014

Laurenzia, Klangstäbe und die Triangel.

Mein Kindergarten befand sich nach seiner Übersiedlung in zwei zusammengelegten Wohnungen in einem Wiener Mietshaus.
Ein Raum davon war als "Turnsaal" umfunktioniert – Parkettboden, eine Sprossenwand (oder waren es zwei?), ein Regal, aus dem die Kinder Musikinstrumente nehmen konnten. Bzw., sie wurden von der "Tante" ausgeteilt. Rasseln, Trommeln, Klangstäbe, und die Triangel. Wer zuerst und am Eingehendsten darum rief, bekam als Erster. Wer überblieb, bekam die Klangstäbe. Von denen gab es viele.
Irgendwie war die Triangel besonders beliebt, und da ich kein mädchenhaftes Mädchen und auch keine geborene Vordränglerin war, blieben mir meistens nur die Klanghölzer. Vielleicht waren es immer die selben Lieblinge, die die Triangel bekamen, vielleicht immer andere, aber sicher ist, ich kam so gut wie nie dran. Also versuchte ich, aus den langweiligen Klanghölzern mehr als nur das eine typische Geräusch, das ich noch immer im Gedächtnis reproduzieren kann, herauszubekommen. Parallel zueinander anstoßen. Über Kreuz langsam zusammenklopfen. Der Höhe nach. Reiben. Das Holz lang greifen oder knapp am Ende. Aber leider, leider, es war nicht viel Variation herauszuholen. Ein Klangholz ist kein Xylophon.
Doch einmal gelang es mir, die Triangel zu ergattern. Ich traute meinem Glück kaum. Das aus unerfindlichen Gründen heiß begehrte Instrument, es war für kurze Zeit mein. Und ich freute mich auf die Mysterien und Spezialitäten, die dem Ding vermeintlich zu entlocken waren. Aber zu meiner Enttäuschung, die Triangel verhielt sich nicht viel anders als die Klanghölzer. Lauter, leiser, sanfter, klirrender – es war im Grund immer nur das selbe Geräusch. Ich gab die Triangel nach einigen Minuten wieder zurück. Überließ es wieder denen, die nach dem glänzenden, silbrigen, klingelnden Ding gierten. Es glitzerte schön, war aber so einfältig wie die zwei groben Stecken Holz. Ich hatte den Mythos durchschaut, und mich über jene gewundert, die es nicht taten. Die die hochheilige Trophäe nur haben wollten, um jene zu sein, die sie hatten. Das Ding war ein Statussymbol, das sonst zu nicht viel taugte.

Eine andere Erinnerung aus dem "Turnsaal" ist die Feier meines Geburtstags. Es war mir äußerst unangenehm, allen anderen Kindern alleine gegenüberzustehen. Ich wollte mich am Liebsten unter dem kleinen Tisch verstecken, der in der Mitte aufgestellt war. Ich fühlte mich nicht gefeiert, ich fühlte mich vorgeführt.
Oder "Laurenzia" zu singen, bis die Knie krachten und nachgaben. Laurenzia, liebe Laurenzia mein, wann werden wir wieder zusammen sein. Am Montag. Am Dienstag. Am Mittwoch. Und jedesmal eine tiefe Kniebeuge, mit straff ausgestreckten Armen. Angeblich heißt es heute sportwissenschaftlich, dass übermäßig viele Kniebeugen den Kniegelenken schaden. Vielleicht ist die Theorie auch schon wieder überworfen. Es fühlte sich an wie ein Bundesheerrapport, wir haben uns auf- und nieder gequält. LauRENzia, liebe LauRENzia mein. Aufgeben, umfallen, hinsetzen, aufhören gab es nicht. Da musste man durch. Am MONtag. Am DIENstag. Am MITTwoch. Am DONNERstag. Am FREItag. Am SAMstag. Am SONNtag. Wann werden wir wieder zuSAMMen sein.

Später habe ich in diesem "Turnsaal" meine ersten kurzen Geschichten geschrieben. Als Tische und Sessel hineingestellt wurden und der Raum auch als eine Art Aufenthaltsraum genutzt wurde.

Ich habe noch Dutzende andere Erinnerungen an den Kindergarten.
Die stinkenden, zerkratzten Plastikteller in gelb und orange, vermutlich mit den großartigen Weichmachern der 70er Jahre versehen.
Die vielen grausigen Matratzen, die aufgelegt wurden, auf denen wir schlafen sollten, was ich nie konnte. Woraufhin ich viel Zeit bei der Köchin in der kleinen Küche verbrachte.
Die Bäume, die wir uns von Tante Renate zeichnen ließen. Das Bananenfrappé zur Jause. Der Kakao mit Haut. Der Reis, den ich auf Drohung bis aufs letzte Körnchen aufaß. Die Plastiksessel in der Kleinen Gruppe. Die grausigen Plastikbausteine.
Das Vater-Mutter-Kind-Spielen, bei dem für mich nur mehr die Rolle des Hundes übrig war, wonach ich mich nicht mehr dafür interessierte.
Die Matchbox-Autos, die die Buben mitbrachten, welche ich auch so gerne hätte haben wollen, die mir meine Eltern aber nicht kaufen wollten. Und die Buben nicht borgen wollten, weil ich ein Mädchen war.
Oder dass ich mit Robert Indianer mitspielen wollte, er aber meinte, ich könne seine Squaw sein. Die zu Hause mit dem Essen auf ihn warte. Was ich dankend ablehnte.
Oder das eine jugoslawische Mädchen, das kein Deutsch verstand, aber immer interessante kleine Dinge mithatte – bunte Fäden als Armbänder und sonstige kleine Schätze.
Sascha, der "zuckerkrank" war und darum ab und zu Saft bekam.
Didi, mit dem was weiß ich verkehrt war, der nichts anderes sagte als "Hacke!", und dazu den Arm in die Luft klappte. Ich versuchte einmal, mich ihm anzunähern, und imitierte ihn weil ich dachte so käme ich zu ihm durch, aber er verstand mich nicht.
Haben wir eigentlich getrunken im Kindergarten? Ich erinnere mich nicht an Gläser oder Becher. Gingen wir immer zur Toilette und tranken vom Wasserhahn?
Die Spaziergänge in den Grünen Prater. Die Jesuitenwiese, auf der es noch keinerlei Spielgeräte gab, nur einen alten gefällten Baumstamm und den Hügel, auf dessen Anhöhe es angeblich Wespen gab. 
Das Kinderbecken im Stadionbad, als Didi, in Schwimmflügeln, so aufs Wasser schlug dass es einem ins Gesicht spritzte. Ich tat es ihm gleich um mit ihm mitzuspielen, woraufhin er einen Schreianfall bekam.
Die Vorschulübungen: Buchstaben nachmalen. Die Blätter wurden gesammelt und "später der Lehrerin gegeben". Ich bekam diese Mappe nie. Und weil ich immer ein bisschen kleiner war als die anderen Kinder, zogen sie mich damit auf, ich müsse so lang warten bis ich so groß war wie sie, damit ich auch in die Schule dürfe. Dabei konnte ich im Gegensatz zu ihnen mit 4 Jahren flüssig lesen und schreiben, und empfand ihre Zurückstellungsdrohung daher als äußerst unfair.
Das Theaterstück, für das mir meine Mutter einen grünen spitzen Hut mit Schleier machte, da ich ein Burgfräulein sein sollte. Als jemand anderer ausfiel, wurde ich schnell auf eine andere Rolle umgeschult, weil ich "den Text so schnell lerne".
Die Prinzessinnenzeichnungen, die wir voneinander abmalten, in einem ganz eigenen Stil.
Das eine größere Mädchen aus der anderen Gruppe, die immer mit ihrem größeren Bruder angab, der bei den Sängerknaben sei. Die immer ein Lied von "Infanterie, Kavallerie, rote Husaren..." sang.
Der Jäger, der im Wald auf seine heiße Suppe bläst, und in seine kalten Hände haucht.
Meine beste Freundin, die später in meiner Volksschulklasse und noch später in der Parallelklasse meines Gymnasiums war.
Dass ich in der Ecke stehen musste und nicht mehr weiß warum. Dass ein Kind eine Schachtel "Tutti Frutti" hatte und ich gerne eines probieren wollte; mir wurde gesagt ich solle die Augen schließen, ich dachte ich bekäme eins in den Mund gesteckt, und dann war es doch nur ein Stückchen Orangenschale.
Meine roten Hausschuhsandalen, die ich nie zumachen wollte, auch nicht ausnahmsweise für das Gruppenfoto im letzten Jahr.
Wenn ich mir dieses Foto ansehe, erinnere ich mich noch an die meisten Vor- und Nachnamen der Kinder.
Jetzt, wo ich auf den Stempel auf der Rückseite des Fotos schaue, bemerke ich, dass es der selbe Kinderfotograf ist, der die Fotos für die Volksschule meines Sohns macht. 1978, Foto-Studio Nikolaus in der Gymnasiumstraße. Wie klein die Welt doch ist.


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